Ich habe die Wahl
zwischen 2 Umsteigestationen. Shibuya oder Shinjuku. Nun, Shinjuku gehört zu
den verkehrsreichsten Bahnhöfen der Welt und in der Stoßzeit morgens so um 9 Uhr
rum, verlassen ca. 500 Leute in der Sekunde die zahlreichen Plattformen und
strömen durch die Katakomben. Also, bevor ich in Shinjuku umsteige, rasiere ich
mir lieber mit der linken Hand, mit verbundenen Augen und einem stumpfen
Einwegrasierer den Sack. Ohne Rasierschaum. Bleibt also nur Shibuya. Aber in
Shibuya das kleinere Übel zu sehen, ist so als ob man zwischen vorzeitiger
Ejakulation oder Blähungen mit Ausfluss wählen darf. Jeder Morgen ist eine echte
Herausforderung und gehört wohl in die Top 3 der Dinge, die mir hier am übelsten
aufstoßen.
Der Gang durch
die Katakomben bedarf eines gewissen Systems. Zumindest für mich. Viele
Japaner, besonders Männer, nehmen es für gottgegeben, das sie orientierungslos
und jedwede vorgegebene Laufrichtung ignorierend, vollkommen losgelöst durch den
morgendlichen Ansturm der Massen spazieren können. Bis sie dann im wahrsten
Sinne des Wortes auf mich prallen. Im Laufe der Jahre habe ich also ein fast
perfektes Frühwarnsystem gegen entgegenkommende Spackos entwickelt. Ich hab das
irgendwann schon mal in einem Beitrag erwähnt und will das jetzt nicht weiter
ausführen. Sucht selbst. (Anmerk. d. Red.: Das hast du gut gemacht! Bringt mehr
Klicks!)
Leider hilft mein
Frühwarnsystem nur gegen Objekte auf Kollisionskurs. Gegen Handybremser,
Mangaleser, quatschende Paare und Omas mit Rollator, die plötzlich vor einem
auftauchen, hilft das herzlich wenig. Ohnehin schon mit einer deutlich längeren
Schrittweite als der Durchschnittsjapaner ausgerüstet, muss ich mich oft durch
Lücken drängen, die sich in der schwarzen Masse auftun. Wenn dann einer dieser
Bremser auftaucht (Die Mr. und Mrs. Important mit ihren Mobiltelefonen hasse
ich am meisten!) hilft nur noch Geschwindigkeit drosseln. „Brücke an
Maschinenraum! Sofort die Geschwindigkeit drosseln! Handybremser voraus!“ Wie
ich die hasse!
Endlich
schließen sich die Türen des Zuges. Jetzt kann nichts mehr schief gehen. Das
U-bahnsystem in Tokyo ist absolut spitze. Sauber, schnell, pünktlich und kaum
Pannen! In der Welt wird die U-bahn in Tokyo ja immer als Generalbeispiel für
das effiziente und genaue Arbeiten der Japaner genannt. Bullshit, sage ich! Die
Bahn MUSS so genau funktionieren! Es DARF keine Abweichungen geben! Nicht mal
eine kleine! Wer einmal, so wie ich, einen Ausfall der Yamanotelinie mitgemacht
hat, der weiß was das bedeutet. Nämlich: Die Kacke ist am dampfen! Und zwar gewaltig!
Nur 10 Minuten
Stillstand wegen “Gegenständen“ auf den Schienen (vielleicht der 12jährige
Toshi, der von seinen Mitschülern mit Ijime in den Tod gemobbt wurde?) und die
Hölle bricht los. Binnen Sekunden sind die Bahnsteige so dermaßen überfüllt,
das die Züge schon alleine deshalb nicht mehr fahren können, weil ständig
jemand von der Plattform auf die Gleise fällt. Sobald klar ist das der Zug
nicht kommt, kehrt die schwarze Masse auf dem Absatz um und versucht in andere
Linien, Busse und Taxen auszuweichen und trifft auf dem Rückzug auf die immer
noch den Bahnsteig „angreifenden“ Truppen, die keine Info gehört haben, oder es
einfach nicht glauben wollen. Chaos! Alles kommt zum Stillstand! Schon nutzen
einige Grabscher die Gelegenheit und fangen schon außerhalb des Zuges zu
fummeln an! Gelegenheit macht Diebe! Einige alte Leute werden bis in die
Bewusstlosigkeit gequetscht! Rettungsdienste versuchen sich einen Weg durch das
Getümmel zu schlagen! Wohoho!
An den Gates der
anderen Linien stehen jetzt Bahnbeamte mit kleinen Zetteln in der Hand, auf
denen steht das nicht der Überbringer, sondern JR an seinem „zu spät kommen“
schuld ist. Sie kommen kaum mit dem Austeilen nach. Nach 10 Minuten rollt wieder
der erste Zug im Schneckentempo an die Plattform, damit wenigstens keiner mehr
auf die Schienen fällt. Nach ein paar Minuten kommt die Durchsage, das die
Strecke wieder frei ist. Die Türen öffnen sich. Die Drücker mit ihren weißen
Handschuhen müssen jetzt Schwerstarbeit leisten. Mehrmals öffnen sich die Türen
wieder, weil doch noch eine Handtasche heraushängt. Im Schneckentempo geht es
durch die anderen Bahnhöfe, weil sich auf deren Bahnsteigen natürlich auch die
nicht abtransportierten Massen stapeln. Der Zug ist zu 150% voll. Aggressivität
und Schweißgeruch liegen in der Luft.
Doch nach einer
Stunde ist der Zauber vorbei. Nur noch die vielen verlorenen „Entschuldigungszettel“
und die erschöpften Gesichter der Bahnmitarbeiter erinnern an das Chaos zuvor. Mehrere
hunderttausend Leute sitzen nach ordentlicher Verspätung an ihrem Arbeitsplatz
und können nun endlich in den erhofften Dämmerzustand bis zum Feierabend
fallen. Tokyo tickt weiter.......