Auf der Waage
steht in großen Lettern "Health Commander".
"Komisch,
ich dachte eigentlich das man abnimmt, wenn einem der Magen ausgepumpt
wird."
"Nein. Die
entnommene Magenflüssigkeit wird ja ersetzt. Ansonsten würden sie sich fühlen,
als ob sie einen lebendigen Igel im Magen hätten. Glauben sie mir, das dazu
benutzte Gerät wollen sie nicht sehen."
Ich glaube ihm.
Ich fühle mich auch so schon, als hätte man mir mit einer Drahtbürste den
ganzen Dreck aus den Eingeweiden gescheuert. Schön ist das nicht.
"Trotzdem
fühle ich mich so, als ob alles schlechte aus mir verschwunden ist."
"Das meiste
schlechte sitzt in ihrem Kopf. Den dürfen wir leider nicht auspumpen."
Aus dem
Augenwinkel nehme ich die Bewegung einer anderen Person wahr. Es ist wieder die
stumme Krankenschwester. Und wieder nickt sie unterstützend. Die arme Frau.
"Was ist los
mit ihr? Kann sie nicht sprechen?"
Der Arzt lächelt:
"Nein, ihr Glaube verbietet es ihr, böse mit ihnen zu sein, oder schlecht
über sie zu denken. Deshalb sagt sie lieber gar nichts."
"Aha."
„Gehen sie jetzt
heim. Am besten legen sie sich erstmal ein paar Stunden hin. Medizin gebe ich
ihnen erstmal keine. Schlafen ist die beste Medizin. Alkohol verbietet sich
natürlich von selbst. Ihr Verdauungssystem soll sich erstmal erholen."
Leuchtet mir ein.
Nur bei dem Gedanke an Alkohol wird mir sofort schlecht.
Als ich gedankenverloren
am Bahnsteig stehe, fällt mir zum ersten Mal auf, wieviel Staub im Lichtstrahl
der LED-Strahler tänzelt. Kommt mir vor wie in Zeitlupe. Ist schon unglaublich,
wieviel Staub eine Riesenmenschenmenge von sich gibt. Schon morgens um halb 10
liegen schon richtige Staubwürste auf den Treppenstufen in Shibuya Eki. Der Zug
fährt ein. Langsam tastet sich der Fahrer an den Haltepunkt heran. Die Türen
öffnen sich. Eigentlich ist genug Platz auf den Bänken, aber ich bleibe stehen.
Ich habe Angst das mir schlecht wird. Ich schaue mir die Leute an.
Ein kleiner
dicker Mann steht dicht an die Tür gepresst, obwohl Platz genug ist im Abteil.
Er schwitzt stark und putzt sich ca. alle 20 Sekunden mit einem Taschentuch
durchs Gesicht und über den Nacken. Sein Hemd liegt so nah am Hals an, das es seinen
Haaransatz praktisch ganz weggescheuert hat. Irgendwie tut er mir leid. Sicher
ist er ein ganz lustiger Kerl. Ob seine Leberwerte wohl genauso schlecht sind
wie meine? Seine Cholesterolwerte ganz sicher. Ob er sich deshalb so versteckt?
Ich weiss es nicht.
Neben mir steht
ein junger Salaryman, der die ganze Zeit auf meine Grand Carrera schaut. Sein
Gesichtsausdruck spricht Bände: „Dieses Gaijinarschloch hat eine Uhr die mehr
kostet als mein gesamter Besitz und ich weiss nicht wie ich meine Freundin zum
Essen einladen soll. Ich hasse ihn!“ Ich verzeihe ihm. Schliesslich war ich
auch mal jung und arm und wusste nicht, wie ich meine Freundin zum Essen
einladen soll. Ich hab dann meistens nebenbei gearbeitet. Ob er auch nebenbei
arbeitet?
Mir gegenüber
sitzt eine junge Frau. Sie ist sehr schlank und hat schöne lange Haare, mit
denen sie ihr total verpickeltes Gesicht verdeckt. Hm, unter den Pickeln steckt
bestimmt ein schönes Gesicht. Einen schönen Mund hat sie ja. Küssen will ich
sie trotzdem nicht. Zumindest nicht ins Gesicht. Am liebsten würde ich ihr das
Geld für ein Set von "Pro Activ" zustecken. Ihr fällt auf das ich sie
beobachte. Sie schaut verschämt in ihr Buch. Rot wird sie nicht. Ich hab noch
nie gesehen, das ein Japaner rot wird. Das gibt es wohl nur bei uns Weissen.
Trotzdem nennen wir alle anderen Rassen „farbig“. Komisch.
Was sie wohl über
mich denken? Wahrscheinlich, das ich irgendwie krank aussehe. Bingo! Der Dicke
kann mich nicht sehen. Er schaut starr aus dem Fenster und schwitzt. Der junge
Salaryman denkt bestimmt: „Wieviel der wohl im Jahr verdient?“ Hier in Japan
denkt man immer an den Jahresverdienst, nicht an den Monatslohn. Liegt wohl
daran, das viele ihren Jahresbonus fest zum Gehalt rechnen müssen. Ich nicht. Aber
vielleicht denkt er auch darüber nach, das er mich am liebsten überfallen und
mir meine Uhr wegnehmen will. Ihm passt sie bestimmt nicht. Seine Arme sind
viel zu ausgemergelt. Die kleine Pickelfee gibt sich alle Mühe mir nicht mehr
ins Gesicht zu schauen. Ich merke, das sie mich „über Bande“ im spiegelnden
Fenster beobachtet. Sie hat bestimmt ein schönes Gesicht. Schade. Der
Papierumschlag ihres Buches ist verrutscht. Auf dem Einband kann ich Pferde
sehen.
Meine Station
wird angekündigt. Als sich die Türen öffnen, wanke ich auf den leeren
Bahnsteig. An meiner Station steigen nicht viele Leute aus. Mir ist speiübel.
Ich setze mich erstmal auf die Holzbank und atme durch. Wie ein alter Mann. Der alte Mann und
die Stadt........