Gutmenschensyndrom

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Heutzutage redet alles von Gutmenschen. Mal im positiven Sinne, mal im negativen.

Ich gebe es zu: Ich bin ein schlechter Mensch. Genau deshalb war auch einer meiner guten Vorsätze für das Jahr 2013, ein besserer Mensch zu werden. Irgendwie so. Nur, wer entscheidet eigentlich, ab wann man ein guter Mensch ist? Gibt es da irgendwelche Richtlinien?


Selbsterkenntnis hilft vielleicht. Ich bin ironisch, aggressiv, sarkastisch, vorlaut und ein Besserwisser. Die Meinung anderer Leute interessiert mich einen feuchten Scheißdreck. Ich spende kein Geld an Hilfsorganisationen, glaube nicht an Gott, rempele Leute an, zahle keine Rundfunkgebühren, trenne meinen Müll nicht richtig und mein Auto ist eine alte Dreckschleuder, die 12 Liter auf 100 Kilometer braucht und röhrt wie ein Hirsch in der Brunft. Bei manchen meiner Kollegen bin ich unbeliebt, weil ich kein Blatt vor den Mund nehme und auch so einige Freunde habe ich schon verloren, weil die Wahrheit nun mal meistens unangenehmer zu ertragen ist, als eine dreckige Lüge. Ich esse zu viel ungesundes Zeug, trinke zuviel Alkohol und werde zu einer Mischung aus Godzilla, Al Bundy und Atilla dem Hunnenkönig, wenn ich besoffen bin. In wenigstens zwei Bars in Tokyo habe ich Hausverbot und beinahe verhaftet worden bin ich auch schon. Mehrmals. Ich achte beim Einkaufen weder auf Preise, noch auf „umweltfreundliche“ Produkte. Ich bin misstrauisch, werde nicht schnell warm mit Fremden und selbst wichtige Kunden können von mir keine aufgesetzte Freundlichkeit erwarten, wenn sie mich verarschen wollen. Bei den Mitbewohnern und Nachbarn meines Apartmenthauses bin ich berüchtigt, weil ich ihre Fahrräder einfach in die Ecke schmeiße, wenn sie auf meinem Mopedparkplatz stehen und ihre Kinder anmaule, wenn sie mein Auto als Fußballtor oder Klettergerüst verwenden. Und ja, meistens denke ich sogar, das ich den rotzfrechen Drecksblagen dafür am liebsten dermaßen fest in den Arsch treten würde, das der Arzt ihnen meine Schnürbänder herausoperieren muss. Und nochmal ja, ich drehe ich mich nach Schulmädchen in viel zu kurzen Röcken um. Pfui Deibel!

Aber bin ich deshalb wirklich ein schlechter Mensch? Also, schlechter als die meisten anderen eh schon sind?

Ich arbeite in einem fremden Land mit völlig fremder Kultur, versuche mich aber trotzdem soweit wie möglich einzufügen, ohne aber meine Identität aufzugeben. Ich hantiere jeden Tag mit 3 Sprachen herum ohne auszuflippen (naja, meistens...), während für die meisten um mich herum schon eine Sprache zuviel des Guten ist. Ich bescheiße nicht das Finanzamt oder meine Versicherungen, bezahle meine Rechnungen immer pünktlich und leihe mir niemals Geld. Ich benutze öffentliche Verkehrsmittel und/oder laufe zu Fuß, so oft es geht. Mein Auto habe ich eigentlich nur als „Bastelbude“, deshalb macht es auch nix, das die Karre soviel Sprit verbraucht. Ich fahre ja eh nur am Wochenende. Ein durchschnittlicher deutscher Staubsaugervertreter verbläst mit seinem Dienstdiesel soviel Sprit in einer Woche, wie ich im ganzen Jahr verbrauche. Unnötige Verpackungen lasse ich im Laden. Wer das nicht will, sieht mich nie wieder. In meiner Wohnung gibt es nur LEDs oder Leuchtstoff. Mittlerweile gibt es schon LEDs mit wirklich angenehmer Farbe. Wenn ich das Haus verlasse, oder schlafe, stelle ich den Strom praktisch komplett ab. Ich mummel mich lieber mal in eine Decke ein, als das ich den ganzen Tag die Gasheizung auf volle Kanne laufen habe. Die Klimanlage nutze ich nur im Sommer und nicht im Winter zum Heizen. Ich habe Begrenzer an den Wasserhähnen und im Spülkasten. Obwohl das Quatsch ist, denn wenn das hier alle machen, bleibt die Scheiße in der Kanalisation stecken, stinkt zum Himmel und wird von den Stadtwerken deshalb mit gutem Trinkwasser wieder saubergespült, so wie bei euch in Deutschland. Ich rauche nicht (nur manchmal vor Wut...), esse kein Walfleisch und auch keine Singvögel. Ich helfe gern, sich hier in Big-T zurechtzufinden, Kontakte zu knüpfen, oder auch mal einen Job zu finden. Ich unterstütze alle meine Kinder und zumindest meine japanische Exfrau und ihre Kinder aus erster Ehe, obwohl ich es nicht muss. Besonders meinen kleinen Sohn Nao umhege und beschütze ich wie eine Löwenmama. Ich bin treu. Ich lüge nicht. Naja, ich versuche es. Ich bin kein Morgenmuffel (außer Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag....). Ich biete schwangeren und alten Frauen meinen Platz an, halte ihnen die Tür auf und telefoniere nicht im Zug, sondern halte einfach meine Klappe und glotze aus dem Fenster. Mit meinem deutschen Auto, das ich, wenn überhaupt, meistens in irgendwelche Werkstätten fahre, halte ich ganze Kolonnen von Japanern in Lohn und Brot. Und nicht zuletzt schreibe ich diesen Blog. Als Inspiration, Unterhaltung und Lebenshilfe, wenn auch eigentlich meistens für mich selbst. Ich glaube an mich. Amen.

Vielleicht bin ich ja doch nicht soooo ein schlechter Mensch........

  1. Doch doch, bist du. Dein gestriger Vergleich hat mich davon überzeugt! Ich war gar zutiefst betroffen, denn ich als wirklicher Gutmensch bin sehr sensibel...

    Aber ansich klingt der Text nach dem Tagesbericht eines Berliners. ;)
    Dauernd nett sein kann keiner, verursacht nur Geschwüre und Unwohlsein. Finde ich zumindest. Die Wahrheit muss halt hin und wieder raus. Und wenn es den stinkenden Affen neben mir in der U-Bahn trifft der meint noch Poppeln zu müssen! Oh, ich schweife ab...

    Das mit dem ungesunden Zeug hat aber nichts mit "schlechter Mensch" zu tun. Das gehört dann eher in die Kategorie fauler Hund.

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    1. @Ernst
      Warte, das ist mir ja jetzt erst aufgefallen! Was für einen Vergleich meinst du eigentlich?

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  2. Was für Kontakte knüpfst du denn für die Leute? Hihihi, öhm, naja, nicht so wichtig...

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    1. Ne, lass ruhig raus! Ich beantworte alle Fragen. Naja, fast alle. Mit Kontakte knüpfen meine ich NATÜRLICH nicht ficken, du Ferkel. Vitamin B ist hier alles, also nehm ich z.B. schonmal Neugaijin mit auf Messen oder Seminare, um die richtigen Leute kennenzulernen.

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  3. Heute mal sehr philosophisch? ;)

    Ich stimme Ernst zu. Viele Dinge, die du beschreibst haben gar nichts mit "guter oder schlechter Mensch" zu tun.
    Für mich ist ein schlechter Mensch jemand, der vorsätzlich anderen Schaden zufügt - auf welche Art auch immer.

    Mit den Dingen, die du so aufzählst, schadest du dir höchstens selbst. Das hat nichts mit "böse" oder "schlecht" zu tun, sondern mit Faulheit, Dummheit oder Masochismus. ;P

    Ich finde im Gegenteil sogar viele Sachen, die du am Anfang aufgezählt hast eher als gut an. Ich denke, es ist immer besser gnadenloas ehrlich zu sein als anderen was vorzujammern.
    Und was ist bitte falsch daran, nervige Kinder anzuschnauzen, die dein Eigentum zweckentfremden? *g*

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    1. Hach, du wirst mir ja noch richtig sympathisch, Schnuffi..... ;-)
      Und ein bisschen Faulheit und Masochismus, ja auch Dummheit in gewissen Situationen, steckt doch in jedem von uns, oder?

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    2. Jep, jemand der mir zustimmt muss Grundsympathisch sein! :>

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    3. So Jungs, jetzt könnt ihr mit dem Geschleime wieder aufhören! ;)

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  4. Mal ganz ehrlich, deine ganzen negativen Eigenschaften - so ist doch mindestens jeder dritte in Deutschland, oder? Ich umgebe mich persönlich auch dann anscheinend eher mit coolios. Auch wenn ich selbst dann nicht "körperlich grob" werde (bin auch keine 1.90). Leute anrempeln kann daher für mich halt nach hinten losgehen. Schlecht wäre es eher gewesen, wenn du geschrieben hättest, dass du im betrunkenen Zustand Obelix-mässig japanische Kneipengänger aneinanderbatscht.

    Lass dir nix einreden, das was du da alles aufgezählt hast, zeichnet eher das Bild eines ehrlichen, wenn auch etwas grobschlächtigen Kerls. Mit dem geh ich dann aber lieber einen trinken, als mit einem, der die Fresse nicht aufkriegt und dann hinterrücks das Messer auspackt. Das Problem ist wohl eher, dass man damit in Japan wesentlich mehr aneckt als in Deutschland, oder?

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  5. Je mehr ich dein Blog lese (und ich hab gestern erst angefangen und lese von vorn nach hinten), desto sympathischer wirst du mir. Wir scheinen uns ziemlich ähnlich zu sein. Zumindest würde ich in vielen von dir beschriebenen Situationen ähnlich reagieren bzw. habe so reagiert. Wenn ich mal in Tokyo sein sollte, lad ich dich auf ein Bierchen ein. Brauchst dich gar nicht zu wehren. Ich weiss, wir würden uns prima unterhalten :)

    Auf gehts zum nächsten Artikel. Ich liebe deinen wunderbaren Zynismus. Bis ich über dieses Blog gestolpert bin, dachte ich immer, ich wär der Hyper-Zyniker, aber du hast ein Level erreicht, welchem ich noch zustrebe :)

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