Leiden sind manchmal ein versteckter Segen......

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Heute starte ich mal ein Experiment. Eigentlich wollte ich es immer vermeiden, aber ich schreibe mal etwas persoenliches ueber mich selbst. Ihr wisst es wahrscheinlich noch nicht, aber ich hasse Zugfahren. Hier kann ich es ja sagen, wir sind ja unter uns (was ja eigentlich auch stimmt).......

Was fuer andere eine Zahnbehandlung, Arbeiten, Karaoke, oder Sex mit dem eigenen Mann ist, ist fuer mich das Zugfahren. Ich hasse es abgrundtief. Ja dann bin ich aber in der voellig falschen Stadt, werdet ihr jetzt zurecht einwenden. Ihr muesst wissen, ich habe Agoraphobie, auf gut deutsch: Platzangst, obwohl das eigentlich nicht stimmt, denn ich habe ja keine Angst vor weiten Plaetzen, sondern vor engen Raeumen, also eher eine Raumangst.


Uaaah, Hoelle!

Fuer mich ist das Bahnfahren, genau wie das Bloggen auch, eine Selbsttherapie. Ich setze mich bewusst dem aus, was fuer mich die groesste Gefahr bedeutet: Andere Menschen! Meistens geht das auch gut und ich kann schon eine gewisse Besserung feststellen, aber an manchen Tagen geht’s halt nicht. Meistens faengt es damit an, das ich mich beobachtet fuehle. Nein, ich fuehle mich garnicht so, ich werde wirklich beobachtet. Auslaender, besonders grosse hellhaarige, sind wohl immer noch eine Attraktion fuer die meisten Japaner. Ist wohl so wie mit nem‘ Unfall auf der Autobahn: Man will ja garnicht hinschauen, aber man kann nicht anders und sei es auch noch so eklig.

Meistens fange ich dann an zu schwitzen. Dann versuche ich einen moeglichen Fluchtweg zu planen: An dem Typ komme ich links vorbei, an dem rechts, den rempel ich um und dann bin ich an der Tuer. Dann kommen die Menschenmassen immer naeher. Ja, ist natuerlich Quatsch, aber mein Gehirn gaukelt mir genau das vor. Ich weiss das. In diesem Stadium fange ich an, Zeitungen, Buecher, Taschen, Kleidung, einfach alles was mir zu nahe kommt an die Seite zu schieben, was natuerlich zur Folge hat, das man mich nur noch mehr anstarrt. Dann gibt es 3 Moeglichkeiten:

1. Ich schaffe es rechtzeitig aus dem Zug zu kommen und laufe zur Arbeit (oder nach Haus, je nachdem....) oder nehme ein Taxi.

2. Ich schaffe es noch rechtzeitig aus dem Zug zu kommen, saufe mir einen (Druckbetankung) und torkele dann zur Arbeit (oder nach Haus, je nachdem....) oder nehme ein Taxi.

3. Ich verwandle mich in Hulk, Godzilla und Dragonball GT gleichzeitig und laufe Amok.

Nein, das passiert natuerlich nicht staendig, sondern beruhigend selten, deshalb sehe ich auch keinen Grund mich mit Pillen vollzustopfen und sabbernd wie ein Zombie durch den Tag zu kommen. Bin ich deshalb bekloppt? Ein bisschen schon, aber besonders in Tokyo stellt das kein Problem dar, denn Tokyo ist die Hauptstadt der Bekloppten.

Bis auf eben die Sache mit dem Zugfahren habe ich diese kleine „Unzulaenglichkeit“ sehr gut im Griff. Grosse Menschenansammlungen an Bahnhoefen oder in Kaufhaeusern sind zwar laestig, aber kein Problem mehr. Typisch kleine Raueme in japanischen Apatos gehen auch ok, solange Fenster da sind und Motorradfahren mit Integralhelm klappt auch, solange das Visier nicht allzu dunkel getoent ist.

  1. Ich weiss wovon du redest,
    Als jemand dem sozusagen schon das offene Meer manchmal viel zu eng ist! :-/
    Deswegen bin ich immer froh das zu meinen Zeiten die Bahn so "leer" ist.
    (Für Deutsche immer noch zu voll.)
    Und mein Schatz versteht selten warum ich lieber den Lokalzug nehme der 10 minuten mehr braucht als den "Superexpress" (mit 2 mal umsteigen)
    Zug A hat fast immer einen Sitzplatz
    Zug B ist der Traum aller Sardinenverpacker (aber doch so viel schneller!)

    Und auch mich fragte man schon "Platzangst und du lebst in Japan? Spinnst du? Da quetschen sich doch alle immer in Züge und rennen wie das Ameisenheer durch die Strassen"

    Zum Glück ist es ja eben nicht (immer) so wie Medien in D. es vermitteln.

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  2. Auf meiner ersten Japanreise stand auf meiner Todo-Liste für Tokyo eine Fahrt auf der Yamanote-Linie während der Rush-Hour. Nach dem Motte das muss man mal erlebt haben. Und obwohl ich nicht unter Platzangst leide, wollte ich kaum das ich drinnen war, eigentlich schon wieder raus. Das gelang mir aber dann erst an der übernächsten Station.
    Mein Fazit damals, ich hab es erlebt, und überlebt, und gut ist. Muss man sich nicht antun wenn es denn nicht unbedingt sein muss. Habe ab dann immer geschaut das ich am Morgen vor 07:00h Uhr mit der U-Bahn mein erstes Tagesziel angesteuert habe. Das hat sich dann auch immer sehr bewährt.

    Ich glaube diese Menschenmassen und Gedränge ist etwas das man von klein an gewöhnt sein muss, um sich nicht umwohl zu fuhlen.

    Gibt es Japaner die an Platzangst leiden ? Und wie schlagen die sich durch Gross-Tokyo ? Als Taxifahrer vielleicht, oder wandern die nach Hokkaido aus ?

    Auf jeden Fall toll wie bewusst Du dich deiner Angst stellst. Ich selbst hatte, nun ja nicht direkt Flugangst, aber lange Zeit ein sehr ungutes Gefühl beim fliegen. Darum kamen für mich viele Jahre lang,nur Kurzflüge von einer bis anderthalb Stunden in Frage. Erst als ich mich überwunden habe den Langstreckenflug für Japan in Angriff zu nehmen, hat sich dies spürbar verbessert. Wenn man 16 Stunden und mehr im Flieger sitzen kann, sind innereuropäische Flüge eine Bagatelle.

    Um mich nicht misszuverstehen, ich bevorzuge nach wie vor das Reisen mit dem Zug, anstelle meinen Fuss in einen Flieger zu setzen, Fliegen ist alles andere als angenehm, aber die Zeit wo ich mir von meiner Angst vorschreiben liess wohin ich reise sind vorbei.

    Also ich wünsche Dir fürs neue Jahr weiterhin den nötigen Biss und Ellenbogenschmalz um Dich in der Masse behaupten zu können.

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