Warum hab ich nicht die blaue Pille genommen?

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Brot und Spiele

Tokyo im Jahr 2009, ein kalter, regnerischer Novembertag. Der eiskalte Herbstwind blaest durchs Haar. Wie jeden Morgen oeffnen sich die Tore der Arena, Meidaimae Bahnhof. Die Gladiatoren und Zuschauer stroemen hinein. Die schwarze Masse quillt die Treppen herunter. Mittendrin ich. Mein Widersacher kristallisiert sich schon bald heraus. Da steht er neben mir am Rand der Kampfflaeche. Mit eiskaltem Blick fixiert er mich. Sein Gesicht ist von Suff und Hurerei gezeichnet, ein gestandener Salariman. Gut, ich habe den +20 Vorteil (20kg und 20cm mehr), aber das macht er durch seine jahrzehntelange Erfahrung wett. Wir tragen beide die uebliche Gladiatorenuniform eines erfahrenen Kaempfers: Anzug, Hemd und Schlips. Waffen (Schirm) und Schilde (Aktenkoffer) sind bereit. Einige unerfahrene Kaempfer statten sich mit Klappschirmen oder Einkaufstueten aus, das gibt einen klaren Abzug bei den Angriffs- und Verteidigungswerten. Auch mein Opponent leistet sich einen Schnitzer: Hellbraune Schuhe passen einfach nicht zum schwarzen Anzug und zu kurze Hosenbeine machen die Sache nur noch schlimmer. Nun gut, dieser drastische Punkteabzug in der Stylingnote hat wahrscheinlich keinen Einfluss auf den folgenden moerderischen Kampf um das einzig Entscheidende.

Der mobile Kampfkaefig rollt mit aufgeblendeten Scheinwerfern in die Arena. Ein kurzes Aufschreien der Fanfaren laesst die Menge zurueckschrecken. Der Druck steigt, die Spannung ist in den meisten Gesichtern leicht abzulesen. Mein Widersacher fixiert mich ungebremst mit starrem Blick, ich erwidere mit einer hochgezogenen Augenbraue.

Der Gong ertoent, die Tueren zum Kampfkaefig oeffnen sich. Die klebrig schwitzende Masse aus Salariman ergiesst sich auf den Bahnsteig, deutlich gezeichnet vom vorherigen Kampfgeschehen an der Front. Nun ist der entscheidende Augenblick: Ohne uns aus den Augen zu lassen, stuermen mein Opponent und ich mit gesenkten Haeuptern und vorgehaltenen Schilden hinein. Durch seine kleinere Gestalt und geschmeidige, katzenhafte Bewegungen kann er sich einen kleinen Vorsprung erkaempfen. Wer sagt, das Gladiatoren fair sein muessen? Also trete ich ihn auf einen seiner eh‘ unpassenden Schuhe, packe die naechste Haltestange und ziehe mich an ihm vorbei. Krieg ist die Hoelle, Kleiner.........

Nur noch einige Zentimeter, dann ist es geschafft. Doch jetzt setzt er seinen Schild ein und rammt mir seine Tasche zwischen die Beine. Nur meiner jahrelangen Erfahrung im deutschen Schulalltag ist es zu verdanken, das meine Fortpflanzungsorgane wohl keinen bleibenden Schaden nehmen werden. So mein Freund und Kupferstecher, nun wird es persoenlich. Ich mobilisiere meine letzten Reserven, halte mir meine kampfgegerbte Tasche vor die Weichteile und lasse mich vornueber in die Masse fallen. Mein Opponent verliert den sicheren Stand und nimmt ein paar unbeteiligte Zuschauer mit auf seinen Weg zum Boden. Endlich, da ist das Ziel, das einzig Entscheidende: Der Stehplatz unter dem Geblaese. Mit beiden Haenden greife ich fest zu, bin praktisch verschweisst mit der Haltestange. Der Sieg ist mein! Rom soll brennen!

  1. Sehr schön =)
    Alle Kriegsgötter der Welt gratulieren zu dem glorreichen Sieg! ;)

    Kann es kaum erwarten, dass selber live zu erleben und meine Männlichkeit durch einen Platz unter einem Frischluftgebläse zu erkämpfen. =]

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  2. Mein Gott, da bin ich ja mit Scheuklappen durch Tokyos Underground gedüst. Allerdings bin ich bis jetzt auch nur einmal in der Rush Hour mit der U-Bahn gefahren. Ein Naturereigniss von dem ich nicht wirlich sicher bin ob ich es nochmals erleben muss.

    Aber das ist halt der Unterschied, als Tourist kannst Du, musst aber nicht. Als Salaryman / Gladiator hat man diese Wahlmöglichkeit nicht.

    Darum Respekt Samurai Biker, und viel Erfolg in deinen zukünftigen Schlachten. Gambatte Kudasai

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  3. danke, das war fantastisch :-) und gratuliere zu deinem Sieg!!

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